Hate speech – Worte, die brennen

Marie war zehn Jahre alt und liebte es, Gedichte zu schreiben. Während andere Kinder am Nachmittag auf dem Bolzplatz tobten, saß Marie oft am Schreibtisch, hörte Musik und schrieb kleine Texte über Freundschaft, Träume oder ihre Katze Mimi.

Marie hatte dunkle Locken, eine sanfte Stimme und einen Nachnamen, den viele Lehrer*innen in der Schule beim ersten Mal falsch aussprachen. Ihre Eltern waren vor vielen Jahren aus einem anderen Land nach Deutschland gezogen. Zuhause wurde manchmal noch eine andere Sprache gesprochen – das war für Marie ganz normal.

Eines Tages nahm sie mit Erlaubnis ihrer Eltern an einem Kinder-Schreibwettbewerb teil. Sie las ihr Gedicht über Mut sogar in einem Online-Video vor. Es wurde auf der Webseite der Stadtbibliothek veröffentlicht. Marie war stolz – bis sie die Kommentare unter dem Video sah.

„Was labert die da?“
„Klingt wie Ausländer-Deutsch.“
„Geht doch zurück, wo ihr herkommt!“
„Typisch, wieder so eine, die sich wichtig macht.“

Marie verstand nicht alles, aber sie spürte: Diese Worte waren böse. Gemein. Und persönlich.

In den nächsten Tagen kamen noch mehr Kommentare – mit Spott, Hass und sogar angedeuteten Drohungen. Einige machten sich über ihren Namen lustig, andere griffen ihre Herkunft an. Niemand in ihrer Klasse sprach sie darauf an, aber sie merkte, dass viele das Video gesehen hatten. Einige kicherten, wenn sie in den Raum kam.

Marie zog sich zurück. Sie wollte nicht mehr schreiben, nicht mehr reden. Sie schämte sich für etwas, wofür man sich nicht schämen sollte: dafür, anders zu sein.

Erst als ihre Lehrerin bemerkte, wie sehr sich Marie veränderte, kam alles ans Licht. Maries Eltern meldeten die Kommentare, die Polizei wurde eingeschaltet. Die Plattform entfernte das Video und sperrte mehrere Nutzer*innen.


Die Folgen für Marie
Marie hatte das Vertrauen in sich verloren. Sie fühlte sich klein, ausgegrenzt und machtlos. Es dauerte Monate, bis sie wieder den Mut fand, ein Gedicht zu schreiben – aus Angst, wieder angegriffen zu werden. Der Hass hatte etwas in ihr verletzt, das man nicht sofort sehen konnte.

Doch mit Hilfe einer Schulsozialarbeiterin, ihren Eltern und einer verständnisvollen Lehrerin fand sie langsam zurück. Sie erkannte: Die Worte, die verletzen sollten, sagten mehr über die Angreifer aus – und nichts über ihren eigenen Wert.